Scheibengipfeltunnel Reutlingen, B312
1. Allgemeines
1.1 Aufgabenstellung
Die Bundesstraße 312 verbindet die A 7 bei Memmingen mit der A 8 bei Stuttgart. Sie stellt eine wichtige regionale Verkehrsachse zwischen Stuttgart, Reutlingen, der schwäbischen Alb und dem oberschwäbischen Raum dar. Die B 312 ist ein bedeutender Albaufstieg, bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde in diesem Bereich eine Straße gebaut. In Reutlingen führte die Bundesstraße durch die Innen- Stadt, das hohe Verkehrsaufkommen von bis zu 65.000 Kraftfahrzeugen/Tag bedeutete für die Einwohner eine erhebliche Lärm- und Schadstoffbelastung. Bereits in den 1960er Jahren gab es erste Überlegungen zum Bau einer Ortsumgehung für Reutlingen. In den 1990er Jahren wurde das Baurecht für die „Umgehungsstraße Scheibengipfeltunnel" im Rahmen eines Bebauungsplanverfahrens geschaffen. Nach Abschluss eines ergänzenden Planfeststellungs- Verfahrens, welches aufgrund einer technisch bedingten Erweiterung der Tunnelbaumaßnahme notwendig wurde, konnte mit dem Bau der Ortsumgehung Reutlingen im Jahr 2009 begonnen werden. Das Kernbauwerk der 3,1 km langen östlichen Umfahrung Reutlingens ist der mehr als 1,9 km lange Scheibengipfeltunnel. Er stellt eine Nord-Süd-Verbindung zwischen der B 28 und der B 312n her. Der Tunnel unterquert den Scheibengipfel- Höhenrücken neben dem Hausberg der Stadt Reutlingen, der Achalm. Die Tunnelüberdeckung variiert zwischen 20m- 40 m im Bereich des Wohngebietes an der Achalm und einer maximalen Überdeckung von ca. 100 m.
1.2 Straßenplanung
Im Grundriss folgt die Tunnelachse einer Trassierung aus Kreisbögen mit verschiedenen Radien, Klothoiden und Geradenabschnitten. Die Gradiente steigt, beginnend am Südportal, in Richtung Norden mit 0,8 %, nach dem Tunnel schließt sich ein Gefällewechsel an. Der Gradientenhochpunkt befindet sich im Tunnel. In Querrichtung ist die Fahrbahn jeweils zur Bogeninnenseite mit 2,5 % geneigt. Als Regelquerschnitt wurde für den Tunnel ein RQ 10T mit zwei Fahrstreifen von je 3,50 m Breite, zwei 0,25 cm breiten Randstreifen und beidseitig 1,00 m breiten Notgehwegen gewählt. In den drei Abschnitten mit den beidseitig angeordneten Haltebuchten weitet sich der Querschnitt um jeweils 2 x 2,50 m auf. In der Höhe ist das Lichtraumprofil auf 4,50 m begrenzt. Für Fußgänger und Radfahrer ist der Tunnel gesperrt.
1.3 Bauwerksgestaltung
Der Scheibengipfeltunnel ist 1.910 m lang. Er besteht aus einem 1.620 m langen Teilstück, welches in bergmännischer Bauweise aufgefahren wurde, und einem Teil in offener Bauweise. Diese Aufteilung resultiert aus den topografischen Verhältnissen und der angrenzenden Bebauung. Die Länge der offenen Bauweise beträgt am Südportal 240 m und am Nordportal 50 m. Sie wurde unter Berücksichtigung der folgenden Aspekte festgelegt:
- Vermeidung schwerwiegender Auswirkungen aus Lärm und Schadstoffemissionen,
- Verminderung betriebsbedingter Beeinträchtigungen des Biotops und des lokalen Klimas,
- Vermeidung der Beeinträchtigung des Kaltluftabflusses.
Das Rettungskonzept verlangte die Errichtung eines zusätzlichen Flucht- und Rettungsstollens. Dieser Stollen ist auf 1.620 m Länge bergmännisch aufgefahren. Die beidseitig anschließenden Abschnitte in offener Bauweise sind im Süden 200 m und im Norden 120 m lang. Die Achse des Rettungsstollens verläuft zwischen den bergmännischen Anschlägen parallel in einem Abstand von 21,00 m zur Achse des Haupttunnels. Die Gradiente liegt 0,40 m höher als im Haupttunnel. Der Haupttunnel ist über sieben Querschlage mit dem Rettungsstollen verbunden. Der Lichträum beträgt 2,80 m x 3,10 m.
Der Tunnel wurde mit seinen Portalen so in die Landschaft eingebunden, dass der natürliche Geländeverlauf weitgehend erhalten werden konnte. Die Ein- und Ausfahrten sind als liegende Portale mit aufgesetztem Betonkragen ausgebildet. Neu entstandene Böschungsflächen wurden gemäß der landschaftspflegerischen Begleitplanung begrünt, bepflanzt und gestaltet.
2. Bauwerksentwurf
2.1 Geologie und Bauweise
Der Scheibengipfeltunnel liegt im Bereich des schwäbischen Schichtstufenlandes. Mächtige Tonsteinserien gehen im Baugrund in eine Wechselfolge sandiger Kalk- und faseriger Mergelsteine über. In den Voreinschnitten und Portalbereichen überdecken bis zu 12 m mächtige quartäre Verwitterungshorizonte die Tonsteinfolgen. Die Tunneltrasse quert zwei Störungszonen: die Achalm-Störungszone in der nördlichen Tunnelhälfte und eine Störung im Bereich des Betzenriedtales am Südportal. Mit Ausnahme dieser Störungszonen ist das Gebirge standfest, wodurch sich günstige tunnelbautechnische Voraussetzungen ergaben.
2.2 Konstruktion
Der Tunnel ist als zweischalige Konstruktion mit einer bewehrten Spritzbeton-Außenschale und einer wasserundurchlässigen Stahlbeton-Innenschale (WUB-KO) ausgeführt. Zwischen beiden Schalen befindet sich im Sohlbereich eine Trennlage aus PE-Folie, um zwängungsfreie Verformungen der Innenschale zu ermöglichen. Im Gewölbebereich übernimmt eine Luftpolsterfolie diese Funktion. Die Außenschale ist 15 bis 30 cm dick und durch Stahlbögen verstärkt. Die Regeldicke der Innenschale beträgt 40 cm. An den Portalen vergrößert sich die Dicke auf 60 cm. Als Material kam Beton der Festigkeitsklasse C 30/37 zum Einsatz. Als Querschnitt wurde ein mehrteiliger Korbbogen gewählt, der bis auf die Bereiche der Haltebuchten auf der gesamten Tunnellänge konstant ist. Rettungsstollen und Querschläge sind ebenfalls als zweischalige Konstruktionen hergestellt. Die Dicke der bewehrten Spritzbetonaußenschale beträgt 15 bis 20 cm. Da in den bergmännischen Bereichen des Rettungsstollens die erforderliche Innenschalendicke nur 30 cm beträgt, war deren Ausbildung als WUB-KO nicht möglich. Diese Bereiche wurden stattdessen mit einer Regenschirmabdichtung aus Kunststoffdichtungsbahnen versehen. Der Gewölbe- Querschnitt des Rettungsstollens beschreibt ebenfalls einen zusammengesetzten Korbbogen. Für die offene Bauweise wurde aus baupraktischen Gründen ein Rechteckprofil als WUB-KO gewählt. Aufgrund der vorliegenden geologischen Randbedingungen waren für den Tunnel und für den Rettungsstollen auf der gesamten Länge statisch mitwirkende geschlossene Sohlen erforderlich. Der Haupttunnel wurde mit Ausnahme der Portal- und Passblöcke in Blocklängen von 10,00 m errichtet. Er besteht aus insgesamt 196 Blöcken. Davon weisen 181 Blöcke den Regelquerschnitt und 15 Blöcke Sonderquerschnitte für die Haltebuchten auf. Zwischen den Blöcken sind im bergmännischen Bereich Pressfugen mit innenliegenden Elastomerfugenbändern und Fugenblechen ausgebildet. Im Bereich der offenen Bauweise wurden Raumfugen mit einer 3 cm dicken Mineralfaserplatteneinlage ausgeführt. Der Rettungsstollen besteht aus insgesamt 175 Blöcken mit Blocklängen von 10,00 m in der offenen und von 11,54 m in der bergmännischen Bauweise. In den Ein- und Ausfahrtsbereichen erhielt das Bauwerk auf einer Länge von jeweils 35,00 m eine 3,00 m hohe, schallabsorbierende Auskleidung. Der Scheibengipfeltunnel verfügt über ein getrenntes Entwässerungssystem für die Ableitung des Oberflächenwassers der Fahrbahnen und der Bergwasserdrainagen.
2.3 Technische Ausstattung
Die betriebstechnische Ausstattung des Tunnels erfolgte nach den Grundsätzen der „Richtlinie für die Ausstattung und den Betrieb von Straßentunneln (RA.BT)". Über dem Verkehrsraum befinden sich in den Portalbereichen insgesamt sechs Strahlventilatoren. Im mittleren Tunnelbereich wurde auf einer Länge von 1.593 m eine Zwischendecke mit steuerbaren Rauchabzugsklappen zur ereignisnahen Brandgasabsaugung eingezogen. Diese Einrichtung begrenzt die Rauchausbreitung im Tunnel. Die Brandgase werden über ein separates Ventilatorengebäude aus dem Tunnel gesaugt und über den Entrauchungs- Schacht am Betriebsgebäude Süd ausgeblasen. Unter den Notgehwegen und im Rettungsstollen verlaufen Leerrohrtrassen für die betriebstechnische Ausstattung. Sammelleitungen der Straßenentwässerung, der Bergwasserdrainage, die Löschwasser- und die Sickerleitung liegen unter der Fahrbahn. Im Tunnel ist eine Beleuchtungsanlage mit Adaptationsstrecken an den Portalen installiert. Die Adaptationsbeleuchtung passt sich an die äußeren Lichtverhältnisse an. Bei Dunkelheit ist sie komplett ausgeschaltet und die Durchfahrtsbeleuchtung leuchtet auf minimaler Stufe. Um den Tunnel kurzfristig sperren zu können, sind in den Tunnelvorfeldern Wechselverkehrszeichen und an beiden Portalen Lichtzeichenanlagen mit Schranken eingebaut. Selbstleuchtende Markierungselemente im Abstand von 25 m verbessern am Fahrbahnrand als aktive Leiteinrichtungen die visuelle Führung im Tunnel.
Zu den Sicherheitseinrichtungen des Tunnels zählen weiterhin:
- beidseitige Notgehwege mit Orientierungsbeleuchtung und Fluchtwegkennzeichnung,
- sieben Notausgänge in den Rettungsstollen im Abstand von 240 m,
- drei Pannenbuchten im Abstand von 480 m,
- 15 Notrufstationen mit Handfeuerlöschern im Abstand von 120 m,
- Löschwasserleitung mit Löschwasserbecken und Druckerhöhungsanlage,
- 16 Löschwasserentnahmestellen mit Überflurhydranten,
- manuelle und automatische Brandmeldeanlage,
- Videoüberwachung,
- Sichttrübe-, CO- und Luftgeschwindigkeitsmessgeräte,
- Lautsprecher, Verkehrsfunk/Radio,
- Tunnelfunk.
Die Steuerung, Überwachung und Energieversorgung der betriebstechnischen Anlagen erfolgt in zwei Betriebsgebäuden. Von beiden Zentralen aus kann der Tunnel autark gesteuert werden. Im südlichen Bereich der offenen Bauweise befindet sich ein gemeinsames Ventilatoren- und Betriebsgebäude. Das zweistöckige Bauwerk ist so in die Landschaft integriert, dass nur der Eingang und der Brandgaskamin oberhalb der Geländeoberfläche sichtbar sind. Das zweite Betriebsnebengebäude mit Löschwasserbecken und Druckerhöhungsanlage befindet sich in der Nähe des Nordportals.
3. Bauausführung
3.1 Allgemeines
Am 18. August 2009 fand der Spatenstich für die Gesamtbaumaßnahme der Ortsumgehung Reutlingen statt. Im Januar 2011 begannen die Arbeiten für den Voreinschnitt und die Hangsicherung an beiden Tunnelportalen.
Die Baumaßnahmen am Scheibengipfeltunnel selbst startetenam21. Mai2012. Zuerst erfolgten Ausbruch und Sicherung auf ganzer Tunnellänge. Erst nach dem Durchschlag wurde die Innenschale eingebaut. Da die im Baugrund vorgefundenen Schichten nur eine geringe Wasserdurchlässigkeit besitzen, war der Wasserandrang während der Baumaßnahme gering.
3.2 Gefährdung durch Methangas beim Auffahren des Tunnels
Eine Besonderheit bei dieser Baumaßnahme trat erst kurz vor Beginn des bergmännischen Ausbruches des Tunnelquerschnittes auf: Es wurden Methangaszutritte festgestellt. Diese Erkenntnis war aus den bis dahin durchgeführten Baugrunduntersuchungen und Probeentnahmen nicht bekannt. Weit unterhalb der Tunneltrasse befindet sich im Lias eine ca. 10 m mächtige Schicht des Posidonienschiefers. Dieser Posidonienschiefer kann ein Muttergestein für Erdöl und Erdgas darstellen. Über die vorhandenen Kluftsysteme oder Störungszonen kann Erdgas, mit dem Hauptbestandteil Methan, aufsteigen. Beim Anfahren von größeren Klüften oder durch Ansammeln des Methangases im Tunnelquerschnitt können explosionsfähige Atmosphären entstehen. Um dieser Gefahr beim Tunnelvortrieb zu begegnen, wurden mehrere sicherheitstechnische Maßnahmen unternommen. Während der Baumaßnahmen trat an mehreren Stellen Methangas auf. Ein größerer Zutritt ereignete sich am 23. April 2013. In dessen Folge musste der Tunnelvortrieb für fünf Tage stillgelegt werden, damit das Gas schadlos abgeführt werden konnte. Der hohe sicherheitstechnische Aufwand hat sich bewährt.
3.3 Tunnelvortrieb
Der Tunnelanschlag fand am 12. Oktober 2012 statt. Der bergmännische Vortrieb des Haupttunnels und des Rettungsstollens erfolgte in der Spritzbetonbauweise. Beide Tunnel wurden gleichzeitig von Norden aus in fallender Richtung aufgefahren. Für die Vortriebsklassen 4 bis 6 erfolgte der Ausbruch im Sprengvortrieb, in Vortriebsklasse 7 als mechanischer Vortrieb mit Lockerungssprengungen. Der in Kalotte, Strosse und Sohle unterteilte Querschnitt des Haupttunnels wurde aus Standsicherheitsgründen in drei Abschnitten ausgebrochen. Der Tunneldurchschlag der Kalotte erfolgte im Januar 2014. Anschließend wurden die Strosse und die Sohle gemeinsam von Süd nach Nord ausgebrochen. Im Unterschied zum Haupttunnel konnte der kleinere Querschnitt des Rettungsstollens als Vollausbruch aufgefahren werden. Die sofortige Sicherung des Ausbruchquerschnittes erfolgte durch die Spritzbetonaußenschale mit ein- bzw. zweilagiger Betonstahl-Mattenbewehrung. Weitere Sicherungsmittel waren:
- Gebirgsanker,
- Ausbaubögen,
- Spieße als vorauseilende Sicherung,
- Rohrschirme (zwei am Nordportal und einer an der südlichen Anschlagswand),
- Ortsbrustsicherung,
- Kalottensohlgewölbe als bauzeitlicher Ringschluss.
Die Wirksamkeit der Sicherungsmittel und der gesamte Vortrieb wurden mit einem baubegleitenden geotechnischen Messprogramm überwacht. Zwei ortsnahe Deponien nahmen das Ausbruchsmaterial auf.
Nach Beendigung des Ausbruchs und der nachfolgenden Profilierungsarbeiten begann im April 2013 die Betonage der Sohlgewölbe von Süden nach Norden. Ab August 2014 schloss sich die Betonage der Gewölbe an. Die Gewölbebewehrung war mit Tragbögen selbsttragend ausgebildet. Da ein Gewölbeblock in 24 h hergestellt wurde, konnten pro Woche 5 Blöcke realisiert werden. Zur Nachbehandlung des Betons standen drei Nachbehandlungswagen zur Verfügung.
3.4 Offene Bauweise
Da der Tunnelquerschnitt in der offenen Bauweise demjenigen der geschlossenen Bauweise entsprach, konnte für die Herstellung der Abschnitte der offenen Bauweise derselbe Schalwagen, ergänzt um eine polygonale Konterschalung, genutzt werden. Nach Abschluss der Betonage der Innenschale wurden die Schalendicke mit Hilfe des Impact-Echo-Verfahrens und die Betondeckung mit einem elektro-magnetischen Prüfverfahren (Ferroscan) überprüft. Die geforderten Schalendicken konnten bestätigt werden. Nach Abschluss der Rohbauarbeiten und der Herstellung der Fahrbahnen begannen im Oktober 2016 die Arbeiten zur betriebstechnischen Ausstattung. Vor der Verkehrsfreigabe erfolgte am 28. und 29. September 2017 der Funktionstest der Brandlüftung in einem großen Brandversuch.
3.5 Verkehrsfreigabe
Die feierliche Verkehrsfreigabe der Ortsumgehung Reutlingen fand am 27. Oktober 2017 statt.
- Land: Deutschland
- Region: Reutlingen, Baden-Würtemberg
- Tunnelnutzung: Straße
- Bauherr: Bundesrepublik Deutschland, Land Baden-Würtemberg vetr. durch das RP Tübingen
- Planer: Regierungspräsidium Tübingen; Lahmeyer International; GBI Gackstatter; K+S Ingenieur-Consult; Prof. Kirschke
- Bauausführung: Max Bögl, München; Strabag Infrastructure & Safety Solutions, Köln
- Gesamtlänge: 1.910 m (davon 290 m offene Bauweise); 1.940 m (Rettungsstollen)
- Lichte Weite: 9,5 m
- Kosten: ca. 85 Mio. Euro (Rohbau), ca. 15 Mio. Euro (BTA)
- Bauzeit: 8/2009 bis 10/2017











